Das IKEA-Prinzip: Der Weg zu einer wirklich patienten-zentrierten Gesundheitsversorgung?

Ein Gastartikel des Projektes H2O – die Verantwortung für die gelieferten Inhalte liegt beim Team des Projektes H2O.

Quelle Projekt H2O

Liest man die Überschrift, könnte man denken, was haben Möbel und Dekoartikel vom schwedischen Möbelriesen mit der Gesundheitsversorgung zu tun?

So gesehen, eine Anleitung mit Imbusschlüssel wird dies definitiv nicht, aber IKEA hat einige spannende Denkansätze, die das Team von H2O – dem Health Observatory, über das wir bereits hier Blogpost zu H2= berichtet haben, genauer betrachtet hat.

Der folgende Text wurde bereits hier veröffentlicht Originalartikel , und wurde uns vom Team H2O in deutscher Sprache für Euch zur Verfügung gestellt.

Wir wünschen Euch viel Spaß beim Vergleich und freuen uns wie immer über Gedanken und Anmerkungen zum Artikel!

Gesundheitswesen und IKEA sind zwei Begriffe, die man normalerweise nicht im selben Satz hört. Doch wenn wir über die Zukunft der Gesundheitssysteme nachdenken, die mit steigenden wirtschaftlichen Kosten, aber auch mit enormem Potenzial beim Einsatz digitaler Technologien konfrontiert sind, könnte der schwedische Möbelriese nützliche Denkanstöße liefern. Doch bevor wir uns mit diesen Ideen beschäftigen, betrachten wir noch kurz die Struktur der Gesundheitsversorgung an sich.

Eine wirksame und sichere Gesundheitsversorgung hängt von Daten ab. Sie zeigen oft den Zusammenhang zwischen dem Lebensstil einer Person oder einer Gruppe im Zusammenhang mit den einzelnen Behandlungsmöglichkeiten auf und lassen erkennen, was wirklich funktioniert und was nicht. Entscheidungsträger aus der Politik und dem Gesundheitssystem sowie Ärztinnen und Ärzte sind auf diese Informationen angewiesen. Aus diesem Grund wurde in den letzten Jahren viel Hoffnung in die Ausweitung der Nutzung von Real-World-Evidence (RWE = die gewonnenen medizinischen Erfahrungswerte, die dann entstehen, wenn Patienten aus ihrer Perspektive berichten oder auch aus Studien, die eine Maßnahme durchgeführt durch den Patienten beobachten.) und Patient-Reported Outcomes (PROs = die gesammelten Informationen, die Patient*innen selbst in Fragebögen dokumentieren und an ihre Ärzte geben, zum Beispiel bei Studien aber auch in der Therapie) gesetzt. Diese bringen zusätzliche Informationen über den potenziellen Nutzen und die Risiken von Arzneimitteln und medizinischen Produkten.

Um das Potenzial zu verstehen, gehen wir einen Moment in das Nirwana des Gesundheitswesens. Stellen wir uns eine Welt vor, in der Behandlungsergebnisse von Patienten kontinuierlich und in standardisierter Form erfasst werden. Die Patienten wären nicht nur in der Lage, ihre eigene gesundheitliche Entwicklung nachzuvollziehen – beispielsweise wie sich ihr Zustand oder ihr Wohlbefinden in den letzten Jahren und mit verschiedenen Behandlungen und Lebensstiländerungen entwickelt hat -, sondern auch die klinischen Vorteile wären enorm.

Ärzte könnten mit einem Blick auf die Daten ihrer Patienten, erfasst in einem Dashboard wie zum Beispiel in der elektronischen Patientenakte, genau wissen, wie es einer Person geht und wie ihr Körper auf Behandlungen reagiert. Forscher könnten - zusätzlich zu den Erkenntnissen aus teuren klinischen Studien - auf umfangreiche Daten aus der realen Welt zurückgreifen. Dies würde weitreichende Erkenntnisse über Zusammenhängen zwischen Krankheiten, Lebensfaktoren und Behandlungen eröffnen und eine reichhaltige empirische Grundlage für weitere medizinische Innovationen bieten.

Entscheidungsträger auf allen Ebenen, von Gemeinden bis zu den europäischen Institutionen, wären dadurch in der Lage, Schwachstellen und die wirksamsten Lösungen für eine optimale Gesundheitsversorgung zu ermitteln. Kurz gesagt, die Erfassung von RWE auf diese Weise würde das medizinische Fachwissen, die Patientenversorgung und die menschliche Gesundheit grundlegend verändern.

Blicken wir jetzt nach Schweden und damit zum Möbelriesen: Von IKEA inspiriertes Gesundheitskonzept

Betrachtet man dieses Szenario, dann könnten Skeptiker anmerken, dass eine groß angelegte Berichterstattung über Patientenergebnisse vor allem teuer ist. Sie könnten kritisieren, dass Patienten, denen es in der Regel an Fachwissen mangelt und die möglicherweise nicht über Gesundheits- oder Datenkenntnisse verfügen, Schwierigkeiten haben werden, aussagekräftige Daten zu erfassen.

Hier könnte ein von IKEA inspirierter Ansatz zu Lösungen führen. Die Merkmale von IKEA und dessen Geschäftsmodells, die dem Unternehmen zu einem weltweiten Erfolg verholfen haben sind:

·       Der Kunde ist aktiv an der Herstellung des Endprodukts beteiligt.

·       Die Anweisungen sind so einfach wie möglich und weitgehend visueller Natur.

·       Die Standardisierung ermöglicht moderne, begehrenswerte und erschwingliche Produkte.

Diese Attribute sind genau das, was wir im Projekt Health Outcomes Observatory (H2O) anstreben. Kostenlose, benutzerfreundliche und nahtlos verknüpfte Anwendungen, die gemeinsam mit den Patienten entwickelt wurden. So kann man sich auf unkomplizierte Weise aktiv an der eigenen Gesundheitsversorgung beteiligen.

Patienten werden in der Lage sein, ihre Gesundheit in einer beliebigen Anzahl von Dimensionen zu verfolgen - von Müdigkeit und gesundheitlichen Zwischenfällen bis hin zu Reaktionen auf Behandlungen und das allgemeine Wohlbefinden. Vor allem für Patienten mit chronischen oder auch langwierigen Erkrankungen  ist es von großem Wert, ihren Gesundheitsverlauf besser zu dokumentieren und diese Informationen mit ihrem Arzt zu teilen, um evidenzbasierte, also auf der Erfahrung basierende, Entscheidungen zu erleichtern. Zusammen mit klinischen Informationen und Daten von Sensoren in Smartphones und anderen Geräten bilden patientenberichtete Daten die Grundlage für bessere Prognosemodelle und eine wirklich zielgerichtete und personalisierte Gesundheitsversorgung. Es entsteht ein ganzheitliches Bild einer Person.

Patienten werden nicht nur selbst profitieren, sondern auch die Möglichkeit haben, zum Gesamtwissen über die Gesundheitsversorgung beizutragen: Ihre pseudonymisierten Daten können, bei Zustimmung des Patienten, in einer geschützten Umgebung und anonymisiert mit Forschern geteilt werden, um unser aller Verständnis von Biowissenschaften und Gesundheitspolitik zu verbessern,

Dieses Szenario ist keineswegs fantastisch. Zugegeben, in der Anfangsphase werden Kosten anfallen, da die notwendige Dateninfrastruktur aufgebaut, Apps entwickelt und Interessengruppen mobilisiert werden müssen. Aber wenn diese Voraussetzungen erst einmal geschaffen sind, können die Patienten selbst ihre eigenen Daten sammeln und melden. Viele Menschen verfolgen bereits ihre gesundheitlichen Daten: wie viele Schritte sie gemacht haben, ihre Herzfrequenz beim Sport, ihr Schlafverhalten und so weiter. Es kommt nur darauf an, diese digitalen Trends zu nutzen.

Lassen Sie uns also das IKEA-Prinzip nutzen. Durch die Entwicklung benutzerfreundlicher, und partizipativer neuer, auch digitaler Anwendungen können wir es Patienten ermöglichen, nicht nur passive Subjekte der medizinischen Versorgung zu sein, sondern aktive Teilnehmer an unserem gemeinsamen Streben nach medizinischem Wissen und Wohlbefinden.

 

Die Autorinnen:

Meni Styliadou

Vizepräsidentin, Gesundheitsdaten-Partnerschaften, Data Science Institute, Takeda

Tanja Stamm

Professorin, Institut für Outcomes Research, Zentrum für Medical Data Science, Medizinische Universität Wien & Ludwig Boltzmann Institut für Arthritis und Rehabilitation